Oh hey! Die Tage werden kürzer und dieser Newsletter ist etwas länger geworden und (fast) frei von KI. Wenn das kein Leseargument ist! Dafür geht es um die Zukunft sozialer Medien und insb. digitaler Öffentlichkeit für Medien.
Im Sinne von Gramsci: “The old world is dying, and the new world struggles to be born: now is the time of monsters.”
Rockt die Woche,
Johannes
Die Dinge sind nicht ganz normal 🔮
Wir nähern uns dem Ende des Jahres, was bedeutet: Trend Reports! (Die ich, wie jedes Jahr, hier sammle.)
Ein Report des R&D-Teams der BBC möchte ich an dieser Stelle hervorheben: “Things are not normal”. Die ganzen ~60 Seiten sind einen Blick wert, aber hier ein paar Zitate, die so ziemlich alles gut zusammenfassen:
Rather than one ‘next big thing’ , we unearthed a complex set of factors that we believe will enable and catalyse one another, sometimes in surprising and unpredictable ways. […]
Many of our interviewees spoke about a perceived level of complexity in their worlds, which surfaced as two main ideas: first, that in order to simply go about their day as a person, there's a feeling that it's necessary to interact with, and understand, many complex sources of information.
(Kleiner Fun Fact: Kaum einer der Expert:innen im Report hält das “Web3” noch für wirklich relevant…)
Bye, Bye, Social Traffic
Auch Medien befinden sich (mal wieder) in einer interessanten Zeit. Und das nicht wegen KI, denn—oh mein Gott, bitte lasst uns dieses Jahr zumindest noch ein Mal über etwas anderes als KI sprechen — , sondern wegen der Grundwährung des Internets.
Wir reden über Attention, Clicks, Traffic, Eyeballs. Das gute Zeug. Das Zeug, das zunehmend schwieriger zu bekommen ist. Oder um Brian Morrissey zu zitieren: die Zeit der großen Reichweite ist vorbei.
The ComScore unique is dead. Publishers have seen their traffic whither as the social media firehose is fully off and Google is keeping more people on its properties. One longtime executive told me flatly they believe the open web will cease to exist as a viable strategy in a decade.
Angefangen bei X, das zugegebenermaßen noch nie eine große Traffic-Quelle war, aber unter Musk verliert das Netzwerk immer rapider an Bedeutung. Axios fasst zusammen: ~15% weniger aktive Nutzer, 30% mehr Churn und 4% weniger Zeit auf dem Netzwerk — dafür stieg der Traffic auf Elon Musks Profil um 96% 🫠
+ Die gute Nachricht: X zu verlassen schadet nicht. NPR konnte nach einem Jahr keinen Unterschied im Traffic feststellen.
Der Grund, wie Charlie Warzel im Atlantic schreibt: Nachrichten sind, insb. in den USA, politisch komplex:
After the 2016 election, news became a bug rather than a feature, a burdensome responsibility of truth arbitration that no executive particularly wanted to deal with.
Gerade in den USA sind Nachrichten schon lange kein Verkaufsargument mehr für soziale Netzwerke. Facebook hat schon lange aufgehört, Nachrichten in der eigenen Timeline zu priorisieren. Instagram hat nie damit angefangen und Snapchat und TikTok wollen User auf ihren Plattformen halten und sich auf Entertainment und Shopping fokussieren. Zudem mögen US-Nutzer:innen diese Ausrichtung: die Beliebtheit Facebooks stieg nachdem es entschloss, weniger Nachrichten im Feed auszuspielen.
Die fetten Social-Traffic-Jahre sind vorbei. Wie die NYT schreibt, lag der Anteil des Social-Traffics 2020 noch bei 11,5% für US-Medien, im September diesen Jahres waren es nur noch 6,5%.
(Es ist auch unklar, wie sich der Google Traffic über die nächsten Monate verändern wird. Insbesondere mit dem verstärkten Einsatz von KI-Zusammenfassungen.)
TikTok ist auch keine richtige Lösung
In den USA verbringen Nutzer:innen täglich knapp 56 Minuten auf der Plattform — mehr als auf Youtube (48 min), weniger als auf Netflix (62 min). Warum also nicht auch Nachrichten dort veröffentlichen?
Tja, wie sich herausstellt, hält TikTok davon selber anscheinend nicht so viel. Wie eine Studie in “News Media & Society” bestätigt, verschluckt der Algorithmus der Plattform harte Nachrichten-Inhalte und reagiert kaum auf aktives Interesse an diesen. (Hier die Zusammenfassung auf Niemanlab). TikTok will einfach kein Platz für Nachrichten sein (obwohl das natürlich niemanden hindert, trotzdem seine “Nachrichten” von dieser Plattform zu bekommen).
+ Es ist entsprechend kein Wunder, dass vor allem emotionalisierte Entertainment-Inhalte auf TikTok gut funktionieren, bzw. die Daily Mail.
+ Ironischerweise scheint der Trick, junge Menschen für Zeitung zu begeistern, trotzdem zu sein, sie ihnen auf TikTok vorzulesen (Let‘s go, Print-Redaktionen!)
What‘s next? Vielleicht ein neuer Standard?
Wie der BBC-Report am Anfang des Newsletters es so schön beschrieb: es wird wahrscheinlich kein “next big thing” geben fürs Erste. Stattdessen zersplittert das Internet in kleinere Feeds und Plattformen, teils offen, teils geschlossen.
Interessant könnte jedoch ActivityPub werden — ein Standard, der es sozialen Plattformen erlaubt, untereinander kompatibel zu sein. Tumblr, Mastodon, Medium, Wordpress, Mozilla und Flipboard haben das Protokoll (zu unterschiedlichen Graden) bereits implementiert, bzw. bauen auf ihm auf.
In der Theorie könnte es also bedeuten, dass sich verschiedene Dienste (und Publisher) damit nicht mehr auf einzelne geschlossene Netzwerke verlassen müssen, sondern eine sehr viel breitere Öffentlichkeit distribuiert über verschiedenste kleinere Apps und Webseiten aufbauen könnten. “Post-Plattform”, wie The Verge es nennt.
Spekulation, aber das wäre doch mal was.
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